Längst nicht mehr koscher : die Geschichte einer Familie

Erdheim, Claudia, 2006
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Medienart Buch
ISBN 978-3-7076-0208-1
Verfasser Erdheim, Claudia Wikipedia
Systematik De - Geschichte Österreich
Schlagworte Familie, Wien, Juden, Galizien, Widerstandskampf
Verlag Czernin
Ort Wien
Jahr 2006
Umfang 524 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Claudia Erdheim
Annotation Familiensaga Claudia Erdheims "Längst nicht mehr koscher" Es ist eine Familiensaga, wie schon der Untertitel von Claudia Erdheims Buch ahnen läßt, eine Geschichte, die über vier Generationen geht, wie aus dem Stammbaum auf der Umschlaginnenseite ersichtlich ist; es ist schließlich die Familiengeschichte der Verfasserin, wie man aus dem Nachnamen der Protagonisten erschließen kann, sobald man die ersten zwei Seiten gelesen hat. Und es ist ein Buch, das in vieler Hinsicht beachtenswert, beeindruckend und vor allem lesenswert ist. Mit dem Haupttitel wird eine weitere wichtige Thematik angesprochen - das Schicksal einer jüdischen Familie, geprägt zum einen von einer inneren Entwicklung, dem Abrücken von den rituellen Vorschriften zugunsten einer pragmatischen Lebenshaltung, zum anderen aber von einer äußeren, politischen Geschichte massiv beeinträchtigt. Wie in jeder Familiensaga wird die interne Geschichte, die sich aus zyklisch wiederkehrenden Ereignissen konstituiert, von einer Historie überschattet, in diesem Fall der mitteleuropäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, die zum katastrophalen Einbruch führt. Zum Fatum der Zeit kommt das des Ortes, an dem diese Geschichte ihren Ausgang nimmt - die Stadt Drohobycz, von der so mancher Leser wohl nicht weiß, wo diese denn seinerzeit lag und heute liegt (die in Zeiten des alten Österreich gebräuchliche, polnische Schreibung "Drohobycz" könnte heute durch ein der ukrainischen Orthographie entsprechendes "Drohobytsch" ersetzt werden). Aber auch der Ort, an dem diese Geschichte ausklingt, Wien, ist aus der Fatalität der globalen Geschichte nicht ausgenommen. Drohobycz lag zu dem Zeitpunkt, da die Handlung mit dem Stammvater der Familie um 1870 einsetzt, im österreichischen Galizien, es wurde 1918 polnisch, 1939 ein erstes Mal sowjetisch, zwischen 1941 und 1944 war es von Hitlerdeutschland besetzt, 1944 wurde es endgültig der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik einverleibt, seit 1991 liegt es in einer unabhängigen Ukraine. Wie ergeht es Menschen, die an einem Ort solcher historischen Umbrüche leben und leben möchten, weil sie dort zuhause sind? Für die Familie Erdheim der ersten beiden Generationen ist Drohobycz das Zuhause, fast im Sinn eines gelobten Landes, denn dort liegt der Ursprung ihre Reichtums: den Erdöl- und Erdwachsfunden in Boryslaw, unweit von Drohobycz, verdankt auch Moses Hersch Erdheim sein Vermögen: er hat zur rechten Zeit von einem Bauern der Umgebung ein Grundstück gekauft, auf dem man später fündig wurde; und auch die Bierbrauerei, die er in Drohobycz unterhält, profitiert vom Durst der Arbeiter. Liest man die Schilderungen aus dem Alltag um die Gruben in Boryslaw, von Armut, Ausbeutung und nationalen Gegensätzen, die, wenn auch nur im Hintergrund, so doch als Gegenstück zur Geborgenheit der Kinder in der jüdischen Familie funktionieren, so wird man an ähnliche Darstellungen in der polnischen, ukrainischen und bisweilen auch deutschsprachigen Galizienliteratur vor 1900 erinnert. Vor allem Iwan Franko hat das Elend der Industriearbeiter, aber auch die Skrupellosigkeit der besitzenden Schicht in einer Reihe von Erzählungen und Romanen gestaltet, von denen allerdings nur einer, Boa constrictor, in deutscher Übersetzung vorliegt. Die Glaubwürdigkeit, mit der das historische, soziale und konfessionelle "setting" dieser Familiengeschich te nachgezeichnet wird, ist beeindruckend. Sie läßt auch die Frage nach "Dichtung und Wahrheit", nach dem Verhältnis von Fiktion und Dokumentation, nach der Qualität der historischen Recherche und der Intensität der literarischen Gestaltung aufkommen. Es ist bekannt, daß die Verfasserin jahrelang recherchiert hat, auch in westukrainischen Archiven und an Originalschauplätzen (in einem Vorwort dankt sie prominenten Historikern, Fachleuten aus und zu dieser Region), und es ist auch bekannt, daß sie dabei wenig und viel zugleich gefunden hat, sie konnte zwar die Rahmendaten ihrer Protagonisten rekonstruieren, nicht aber deren konkreten Lebensweg; ergiebiger scheinen die Nachforschungen im Hinblick auf den erwähnten zeitgeschichtlichen Hintergrund gewesen zu sein, der auch mit Hilfe von Einschüben aus der damaligen lokalen Presse vergegenwärtigt wird: immer wieder finden sich im Text Einschübe, im Druck vom Haupttext der Erzählung abgehoben, die entweder als wenn auch nicht explizit ausgewiesene Zitate oder zumindest doch als Montagen solcher Zeitungsausschnitte kenntlich werden und damit auch ein stilistisches Pendant zur fiktiven Erzählung darstellen. Eine dritte Schicht der Erzählung verdient darüber hinaus Bedeutung: die Briefe der Protagonisten, quasi im Originalwortlaut in die Erzählung aus auktorialer Perspektive eingefügt, die sich vor allem in den Wien-Teilen des Buches häufen und eine äußerst sprechende Ergänzung zur "Prosa" der Fakten bilden. Auch mit diesen, zum größten Teil wohl fingierten Briefen beweist die Verfasserin ein großes Gefühl für stilistische Vielfalt und kreativen Umgang mit Sprache. Das Nebeneinander von bewußt zurückhaltender, lakonischer Schilderung in kurzen, simpel gereihten Sätzen, und die je nach Persönlichkeit mehr oder weniger üppige Diktion der Briefe, die so viel vom Charakter ihres Schreibers verrät, trägt viel zur literarischen Qualität dieses Buches bei. Der Lebensweg der Familie Erdheim führt schon in der zweiten Generation nach Wien, in die Metropole der alten Monarchie, die der galizischen Provinz damals viel näher lag als die Westukraine heute. Die Erdheims sind hier typisch für Hunderte von jungen Juden und Ukrainern, die es zum Studium in die Hauptstadt zog, nicht nur, weil deren Universität als die beste galt, sondern auch weil sie zum Deutschen mehr Affinität hatten als zum Polnischen - in dieser Sprache hätte man auch im "nebenan" gelegenen Lemberg studieren können. Die Frage der Sprache, die man infolge der jüdischen Assimilation neben oder statt des Jiddischen wählte, Deutsch solang noch das alte Österreich bestand, Polnisch eher in der Zwischenkriegszeit, wird in diesem Buch anhand der Entwicklung der Protagonisten angesprochen. Der Erste Weltkrieg, der eine gigantischen Flüchtlingswelle aus Ostgalizien nach Wien bringt, läßt weitere Familienangehörige nachkommen, ohne daß aber das angestammte Drohobycz ganz aufgegeben wird. Einer der Söhne des alten Moses Erdheim bleibt auch in der Zwischenkriegszeit im nun polnischen Drohobycz, ein anderer arbeitet als Anwalt zunächst in Przemysl und dann in Zablotów. Wien wird zum neuen Zentrum der Familie Erdheim, und entsprechend ausführlich ist diese Stadt auf den Seiten der Familiengeschichte präsent, gleich ob es sich um das Wien um 1900, die Stadt während des Ersten Weltkriegs, in der Zwischenkriegszeit und danach handelt. Aus vielen einzelnen Details dieser Stadt, die die Autorin aufgreift, weil sie im Zu- sammenhang mit dem Schicksal ihrer Protagonisten von Bedeutung sind, entsteht ein Bild von Wien, das gerade aufgrund seiner Subjektivität und mangelnden Systematik beeindruckt. Auch hier beweist die Verfasserin, wie sehr sie mit der gewählten Mischung aus Fiktion und Dokumentation der Wahrheit dieser Stadt für ihre Vorfahren und nicht nur für diese gerecht wird. Man kann den größeren Teil dieser Familiensaga auch als Wien-Geschichte lesen, indem man diese Stadt mit den Protagonisten des Buches entdeckt, dort seßhaft wird, um ihr schließlich auf Leben und Tod ausgeliefert zu sein. Man lernt mit dem jungen Medizinstudenten den Prater samt seinen zweifelhaften erotischen Vergnügungen ebenso kennen wie die Seziersäle der Universität und die Welt der Kliniken. Der r 1460 asche wirtschaftliche Aufstieg eines anderen Bruders ermöglicht es ihm sehr bald, ein großbürgerliches Haus zu führen, in eleganten Geschäften einzukaufen, Dienstboten zu halten und zur Kur und Sommerfrische die bekannten Orte in Böhmen und Bayern aufzusuchen. Dazu aber muß er zuvor eine Nichtjüdin heiraten - Wien ist auch der Ort, der eine solche Variante jüdischer Identität ermöglicht, und es wird nicht lang dauern, bis daß dieses Beispiel Schule macht. In Wien machen die Protagonisten aber auch Bekanntschaft mit dem Antisemitismus, dessen Äußerungen schon vor dem Ersten Weltkrieg nicht zu überhören sind, der in der Zwischenkriegszeit jedoch immer bedrohlichere Formen annimmt. Die Situation im Wien der späten 1920er und 1930er Jahre, nachempfunden aus der Wahrnehmung einer jungen Ärztin, einer Erdheim der dritten Generation, gehört zu den stärksten Eindrücken von der Lektüre dieses Buches. Hinter Sozialismus und Austrofaschismus, Zionismus und Psychoanalyse, der brutalen Niederschlagung des Februar-Putsches von 1934 und dem Mord an Dollfuß lauert das braune Gespenst des Nationalsozialismus, das nach seiner Machtergreifung die größte Bedrohung für die Familie darstellt. Die letzten in Drohobycz verbliebenen Erdheims werden von der SS umgebracht, der rumänische Zweig stirbt in den Todeslagern Auschwitz und Mauthausen. Zwei Erdheims können sich im besetzten Polen durch ständigen Ortswechsel so lange vor einer Denunziation retten, bis die Rote Armee eintrifft. In Wien geht das Leben weiter - die Ärztin bringt mitten im Krieg unter schwierigsten Umständen eine Tochter zur Welt, eine Vertreterein der vierten Generation (vielleicht ein "alter ego" der Verfasserin?), die sie mit einem antifaschistischen, nichtjüdischen Widerstandskämpfer hat. Das Buch endet mit einer Eheschließung, einem der typischen Grundmotive der Familiensaga - kann sie die Kontinuität dieser Geschichte gewährleisten und damit die Tragik des Vorgefallenen, das "böse Ende", von dem schon in der letzten Kapitelüberschrift die Rede war, überwinden? Die Antwort darauf überläßt die Autorin dem Leser. Galizien ist heute keine Terra incognita mehr, ja im Gegenteil, es hat seit einigen Jahren beinahe Konjunktur. Vor allem Texte jüdischer Autoren, autobiographischer und fiktionaler Natur (von Soma Morgenstern, Salcia Landmann, Joseph Samuel Agnon, Leo Katz u.a) blicken aus einer Perspektive nach dem Holocaust zurück in die Welt ihrer Kindheit. Auch Drohobycz ist spätestens seit der spektakulären Entführung der von Bruno Schulz im Haus des "Judengenerals" Felix Landau gemalten Fresken vor wenigen Jahren zumindest für kurze Zeit ins Zentrum der europäischen Öffentlichkeit gerückt. Das Tagebuch des SS-Mannes Landau wurde bereits 1989 veröffentlicht, Erinnerungen österreichischer Schutzpolizisten, die an der Judenvernichtung in Drohobycz und Boryslaw beteiligt waren, sind seit 2002 nachzulesen. Und es gibt seit fast fünfzig Jahren in der "Chronicle of the Lauterbach Familiy" (1961) eine umfassende genealogische Dokumentation zu einer der größten aus Drohobycz stammenden Familie. Claudia Erdheims Buch läßt sich keiner der hier erwähnten Gattungen zuordnen, und es hat doch mit jeder von ihnen etwas gemeinsam - die Relevanz von Erinnerung, die ganz im Sinn von Pierre Noras Unterscheidung von Gedächtnis und Geschichte betrifft und betroffen macht, auch wenn es sich nicht um die Geschichte der eigenen Familie handelt. *Literatur und Kritik* Alois Woldan